„Geld oder Leben?“ titelt Chefredakteur Patterer im Leitartikel der gestrigen Ausgabe der Kleinen Zeitung, um plakativ die Grundwerte zu umreißen, die in der derzeitigen Debatte um COVID-19-Maßnahmen abzuwägen sind. Mit dieser Zuspitzung ist er nicht allein, sondern reiht sich in einen wachsenden Chor von Meinungsmachern ein, der dafür plädiert, nicht nur den lokalen Handel, sondern auch „Luxusgrundrechte“ wie den Schutz von Privatsphäre und Daten zugunsten größerer Gewissheit bei der Bekämpfung von COVID-19 einzuschränken.

Diese rein rhetorische Fragestellung aber geht am Kern vorbei – wer würde es wagen, öffentlich dem Kommerz Vorrang vor der Rettung von Leben zu geben?

Wohin diese verkürzte Sicht der Dinge führt, zeigt die „Frage der Woche“ in derselben Kleine-Ausgabe, nämlich „Weniger Datenschutz für mehr Seuchenschutz?“ Dort ist die Rede von einer „Symmetrie der Ignoranz“ zwischen „Daten- und Rechtsexperten“, wobei wohl nur letztere mit der gescholtenen Ignoranz gemeint sind – diejenigen die einfach nicht verstehen wollen, wie segensreich die schöne neue Welt ist, in der alle Probleme einfach auf Basis Billionen personenbezogener Daten von Bürgern „weggerechnet“ werden können.

Das wahre Problem ist die Asymmetrie des Wissens – schon bisher waren Unternehmen wie A1 offenbar in der Lage, Bewegungsprofile ihrer Nutzer zu verfolgen und diese tagtäglich zu beobachten! Das ist der wahre Skandal.

Neu ist nur, dass nun auch die Regierung darauf zugreifen möchte. Grundrechte sind in erster Linie Freiheitsrechte gegen die Regierung – die alltägliche Überwachung geht bei uns aber von privaten Konzernen aus, die das Wissen dieser Welt sammeln und auswerten.

Das sind dieselben Konzerne, deren Wettbewerb nun durch COVID-19 weiteren Schub bekommt: Online-Versandhandel, Cloud-Computing, Videotelefonie, Virtuelle Kunstdarbietungen – wieviel leichter können nun berufliche und private Aktivitäten lückenlos aufgezeichnet werden, während die Regierung mit ihren Maßnahmen ausschließlich lokale Unternehmer in die solidarische Pflicht nimmt.

Statt rhetorische Fragen wie „Geld oder Leben?“ zu stellen, sollte die Fragestellung „Freiheit oder Gewissheit?“ lauten. Andernfalls hätte die freie Presse ihre Lektion aus 9/11 nicht gelernt. Denn es war der Schatten des „war on terror“, der das rasante Wachstum von Überwachungsriesen wie Google im mehr oder weniger rechtsfreien Raum maßgeblich ermöglicht hat, um lebensrettende Gewissheit zu erlangen. Das Beispiel A1 zeigt: anders als in China hat der Staat im Westen gar nicht das Know how und die Ressourcen, Big Data zu sammeln und selbst zu analysieren. Er braucht dazu die großen Privaten, die dafür ihren Anteil an den Datenschätzen fordern.

Je mehr sie davon bekommen, desto enger hegen sie unsere Freiheit im Namen „wissenschaftlicher Erkenntnisse“ ein. Das zeigt nicht zuletzt die von Chefredakteur Patterer gutgeheißene Methode, Infizierte mit einem digitalen Brandmal zu versehen. Das ist nicht Orwell, das ist der Mensch als Herdenvieh – und das kann dann auch „die Ohren anlegen“…

Um das zu verhindern, hat der Gesetzgeber das Grundrecht auf Datenschutz seit jeher als Schutzrecht gegen staatliche UND private Akteure konzipiert. Jeder einzelne ist nun aufgerufen, wachsam zu sein – denn der „public watchdog“ scheint derzeit genauso der Herdenpanik zu verfallen wie diejenigen Regierungsvertreter, die sich für digitale Überwachung und Big-Data-Analyse starkmachen.